Ahlen. Noch sehr genau erinnert sich Bürgermeister Dr. Alexander Berger daran, wo er war, als am 9. November 1989 das Tor zur deutschen Einheit aufgestoßen wurde. „Ich war Soldat in der Grundausbildung. Jeder in der Westfalenkaserne sprach über nichts anderes.“ Es sei zum Greifen gewesen, dass in jenen bewegten Tagen ein neues Zeitalter angebrochen war. Die in die Geschichte eingegangene Pressekonferenz des Politbüromitglieds Günter Schabowski mit ihrem berühmten Versprecher setzte eine Dynamik in Gang, die in weniger als einem Jahr zur staatlichen Einheit in Deutschland führte. Heute vor 30 Jahren lagen sich Menschen aus Ost und West in den Armen, immer noch nicht ganz begreifend, was eigentlich passierte. „Zugegeben, auch für mich war das eine Vision, an die ich nicht wirklich geglaubt habe“, gibt Berger zu. Für die meisten Westdeutschen sei das „Beitrittsgebiet“, die frühere DDR, gefühlt Ausland gewesen und hinter dem Eisernen Vorhang „sehr, sehr weit weg.“ Daran geändert habe in Ahlen auch eine kleine Ratsfraktion nichts, die sich von der SED alimentieren ließ und Werbung machte für „Jugendreisen in die DDR“. Im Gegenteil. „Die Absicht dahinter war durchsichtig und hat den Riss und das ablehnende Desinteresse eher noch gefördert.“
Mit dem Jahr 1990 sei auch in der Wersestadt allmählich wirkliches Interesse am Osten Deutschlands gewachsen. Vorsichtig näherten sich die Menschen in den neuen und alten Bundesländern einander an. Erste Schritte in Richtung Brandenburg unternahm auch die Stadtverwaltung Ahlen, gefördert durch die Aufbaupartnerschaft der Länder Nordrhein-Westfalen und Brandenburg. Nur ein Jahr nach der Einheit gingen Ahlen und Teltow städtepartnerschaftliche Beziehungen ein. Die erste Reise jenseits der Elbe unternahm Ahlens späterer Bürgermeister einige Jahre nach Mauerfall und Einheit. Für viele junge westdeutsche Menschen seiner Generation hätten in den Wendejahren Berufsausbildung oder Studium im Vordergrund gestanden. „Aus heutiger Sicht muss ich sagen, es war schon schade, den Umbruch der ersten Jahre nicht selbst vor Ort erlebt zu haben.“
Aus der anfänglichen brandenburgisch-münsterländischen Verwaltungsbeziehung entwickelte sich dank zweier rühriger Partnerschaftsvereine in beiden Städten eine echte Freundschaft der Menschen. „Ich bin heute noch heilfroh, dass wir mit Teltow zusammengekommen sind“, bekennt Berger. Die Mentalität der Brandenburger und Westfalen sei „seelenverwandt“. Beide Vereine und die Stadtverwaltungen gäben der Partnerschaft einen Rahmen. „Darüber hinaus gibt es aber auch viele Einzelinitiativen vor allem auf kulturellem Gebiet, die die herzliche Verbundenheit zeigen.“ Und längst seien private Freundschaften entstanden, die auch ohne offiziellen Rahmen seit teils drei Jahrzehnten auskommen.
Vor der Lebensleistung der Ostdeutschen hat Berger hohen Respekt. „Jeder versuchte das Beste zu machen aus den Freiräumen, die das Zwangssystem erlaubte.“ Frühere Alt-Bundesbürger könnten sich kaum vorstellen, was es für die Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge bedeutet hat, wenn von heute auf morgen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung umgekrempelt wird. Die Vollendung der Deutschen Einheit vor dreißig Jahren sei für die meisten Westdeutschen ein Ereignis gewesen, das man aus der Ferne beobachtet habe. „Die neuen Bundesbürger haben es aber hautnah erlebt und häufig genug auch erlitten.“
Das auch heute noch im Westen mitunter zu vernehmende Geschwätz vom „Jammer-Ossi“ wirke umso dümmlicher, je mehr man sich mit Vergangenheit und Gegenwart der beigetretenen Bundesländer befasst. „Dazu bieten Städtepartnerschaften eine fantastische Gelegenheit.“ Junge Menschen sehen die gesellschaftlichen Gegensätze ohnehin nicht mehr im Verhältnis des Westens zum Osten. Aktuell verliefen die Konfliktlinien zwischen städtischen Metropolregionen und ländlichen Gebieten, „egal welcher Himmelsrichtung.“ Trotzdem findet es Berger gut, wenn im Jahr 30 der Deutschen Einheit auch Ahlener beruflich oder zum Studium in die neuen Länder gehen. „Das erweitert den Horizont, festigt das Gefühl gesamtdeutscher Zusammengehörigkeit und lässt gegenseitige Wertschätzung entstehen.“
Den 3. Oktober verbringt Ahlens Bürgermeister auf Einladung seines Amtskollegen Thomas Schmidt in Teltow. Gemeinsam besuchen sie am Vormittag die zentralen Feierlichkeiten zur Deutschen Einheit, die in diesem Jahr im benachbarten Potsdam ausgerichtet werden. Dass dieser Tag so feierlich begangen werden kann, liege laut Berger nicht am Versprecher eines SED-Funktionärs im Jahre `89, sondern am mutigen Eintreten bürgerschaftlicher Gruppen für Freiheit und Demokratie in der siechenden DDR. „Das dürfen wir nie vergessen und daran sollten wir uns heute freudig erinnern.“